Zwei junge Männer verlassen ein ehemaliges Reichsbahn-Gebäude, in dem sich nach der Wende Musikstudios eingenistet haben. Keine Highclass-Studios, wie die beiden sie im Rahmen ihres Praktikums kennengelernt haben, wenn Interviews anstehen und sich Rapper vor ihnen in tiefen Ledersesseln aalen, von ihren Alben erzählen, von den anstehenden Touren, vom Erfolg – und die beiden jungen Männer zuhören und nicken – mit einem Aufnahmegerät in der Hand. Jedenfalls sieht es danach aus, im Kopf läuft jedoch was ganz anderes ab, sie wollen selber im tiefen Ledersessel sitzen, vor einem dankbaren Publikum, denn trotz aller Versicherungen sich selbst oder ihrem Chef gegenüber: Eigentlich wollen die beiden selber Rapper sein. Oder noch besser: Rapstars. Und vielleicht kommen sie jetzt diesem Ziel näher, denn heute, in diesem kleinen, etwas heruntergekommenen Studio, ist ihre erste gemeinsame Platte fertig geworden. Der Titel, eine Mischung aus Selbstbewusstsein und Provinz-Komplex. Aber er verfängt gut, mal gucken, was man noch damit anfängt, mit diesem schrägen Namen, mit Zugezogen Maskulin. Passt ja auch, 2010 ist ein schräges Jahr, neues Jahrzehnt, neue Superlative, die wahrscheinlich so nicht mehr zu überbieten sind: Die Schweinegrippe besorgt die Menschen, ein Vulkan sorgt dafür, dass in manchen Teilen Europas kein Flugzeug startet und ein SPD-Politiker sorgt mit seinem Buch für einen, vorher undenkbaren, Rechtsruck – wenigstens hat man schon länger nicht mehr von den Dönermorden gehört. Was beide zu diesem Punkt nicht wissen, nur hoffen: Die Rapstarträume werden sich erfüllen. Es wird rauschhaft, Anerkennung, dieses bohrende Verlangen nach Anerkennung, Geld, Ruhm, all das gibt es bald – aber der Kater wird gigantisch. Und was die beiden nicht wissen können, aber ahnen: Dieses schräge Jahrzehnt wird noch schriller und seltsamer, mit Verwerfungen, an die man sich im Sommer des Jahres 2020 gewöhnt hat, die bei Bandgründung noch unvorstellbar sind: es werden 10 Jahre Abfuck Und so berichten Zugezogen Maskulin auf 10 Jahre Abfuck von der Ankunft aus der deutschen Provinz in Berlin, „geblendet von den Lichtern, fühlte mich wie Ivan Drago“ und davon, wie man bei „Rap.de“ Menschen interviewt, die einige Jahre später anderen Menschen in Syrien den Kopf abschneiden werden. Grim104 und Testo erzählen vom trüben Weg hin zum Erfolg, als „ZM auf dem Normiefest“ spielten, vor Typen mit Deutschlandhut und mit DJ Ötzi als Kontrastprogramm. Blicken auf Männer und einengende Männlichkeitskonzeptionen, wenn im Hort aus „zwei Decken und zwei Stühlen“ eine „Liebeshöhle“ wird, in der ein Spielkamerad Küsse auf den Bauch verteilt – und blicken auf Frauen, aus den Augen eines Incel-Raubtiers, dessen Geilheit kein Ventil gesetzt ist und aus den Augen des feministischen Posterboys, dem ein „The Future is female“ genauso schnell von den Lippen geht, wie der bedrohlich-aufdringliche Anruf nachts um 3. Huldigen „König Alkohol“, der zwar „alles zerstört, alles kaputt um mich rum“, aber dessen Zauberkraft auch für Abenteuer und Legendenbildung sorgt. Dann, langsam kommt er, „Der Erfolg“, erkennt man, dass man ein „Traumprinz wie Dieter Bohlen“ ist und wenn es nicht klappt mit den Girls, scheiss drauf „wieviel Klicks hat denn dein Neuer, wenn ich fragen darf?“ Lachen irre beim „Tanz auf dem Vulkan“, gegen das bedrohliche Brodeln der Lava aus NSU, AFD, aus Nordkreuz und VS. Und landen in der Gegenwart, wenn man begreift, dass Musik machen und Musik verkaufen eventuell zusammen gehören, wenn man gemeinsam mit Ahzumjot seine Fans zum Kauf der Deluxe-Box einschwört, „ich liebe euch so sehr, ihr dämlichen Viecher“. Wenn die Bühnen groß und größer werden, man unter den irritierten Blicken von Angela Merkel und 40.000 schockierten Zuschauern ein Feiertagsprogramm mit ZM-Klassikern wie „Endlich Wieder Krieg“ bestreitet, „Auftritt Brandenburger Tor, ausgebuht/ aber gut bezahlt – fühlt sich geil an.“ Und wenn man vielleicht langsam müde wird und hofft, dass der Sommer langsam vorbeigeht, wenn man sich wünscht, dass der schwere Goldschmuck endlich dafür sorgt, dass man still und heimlich beim Baden ertränkt wird. Und dass, wenn einem solche Gedanken kommen, vielleicht an der Zeit ist zu gehen. Zeit für einen „EXIT“ Das dieser rauschhafte Rückblick trotzdem so zeitgeistig, weltläufig und aktuell klingt, ist vor allem AhzumjotT zu verdanken, der als Executive Producer auf 10 Jahre Abfuck gearbeitet hat. Der 30-Jährige Hamburger hat der Platte ein minimalistisches und elegantes Soundbild entworfen, in den Produktionen wurde jeder unnötige Pomp abgestoßen, kein Geigen-und-Piano-Pathos, sondern finstere Bass Music und zerhackte, zerschnittene Samples die ineinander gewirbelt werden. Immer wieder tauchen Soundreferenzen auf obskure Youtube-Schnipsel auf, von „Kai der Brecher“ bis hin zu „Pufferfish eating carrots“. Gespräche aus dem Studio werden mitgeschnitten, kleine Hörspiele mit prominenten Gastsprechern in den Songs versteckt. Denn bei aller Modernität, es klingt nie glatt, nie beliebig, immer werden Kanten und Brüche in die Songs eingebaut. Diese Weirdness blitzt immer wieder auf den Produktionen von Silkersoft auf, der neben Ahzumjot für die Beats auf dem dritten Studio-Album von Zugezogen Maskulin verantwortlich ist. Und so ist 10 Jahre Abfuck Rückschau und Aufbruch zugleich: In einen eleganten und hypermodernen Sound eingepackt, schreiben Grim104 und Testo über längst verblasste Anfänge, wühlen im Morast zwischen der Kindheit und ersten Gehversuchen auf Bühnen, Beziehungen und Selbstbehauptungen. Und blicken gleichzeitig in eine Zukunft, die alles sein kann: Hamsterrad oder Emanzipation, strahlende Zukunft oder, hoffen wir es nicht, 10 Jahre Abfuck