„Gelebte Vielfalt“ – wenn jemand die Bedeutung dieses Begriffes kennt, dann Wilhelmine. Aufgewachsen in einem besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg und im Wendland, erlebt sie von Kindesbeinen an unterschiedlichste Lebensformen. „Ich lernte so viele verschiedene Punker kennen oder Menschen, die im Zirkus gearbeitet haben, und die ganz selbstverständlich mit an unserem Tisch saßen“, erinnert sich Wilhelmine. „Ich glaube, das hat mich offen und mutig gemacht, in Kontakt mit Menschen zu treten. Und mir relativ früh die Vorstellung in den Kopf gesetzt: egal, wer und was ich mal sein möchte: ich kann es sein.“
Ihren ersten aktiven Kontakt mit der Musik verortet Wilhelmine im Wendland, wo sie die Schule besucht. „Ich war elf und durfte das Headset meines Musiklehrers testen. In dieser Situation hat mich die Klasse das erste Mal laut allein singen hören. Und ich bekam erstmals Komplimente für meine Stimme.“ Schon bald wird Wilhelmine so etwas wie die inoffizielle Schulsängerin: „Ich habe bei verschiedenen Schulveranstaltungen gesungen, und es war relativ bekannt und selbstverständlich, dass ich die bin, die singt.“
Und das bald auch außerhalb der Schule: Wilhelmine wird als Jugendliche Teil einer Mädchenband, Direkt. Die vier Mädchen singen viel a cappella, akustisch und mehrstimmig – und haben damit die ersten Live-Auftritte: „Es gibt im Wendland ein Fest, die Kulturelle Landpartie. Dort öffnen Dörfer ihre Pforten, und wir bekamen Anfragen von verschiedenen Bauernhöfen, die uns in ihrem festen Programm haben wollten.“ Die „Kulturelle Landpartie“ ist weit über das Wendland hinaus ein Begriff – und die Antiatomkraft-Bewegung erst recht. Sie ruft hier 1980 die „Republik Freies Wendland“ aus und prägt bis heute die Gegend im östlichen Niedersachsen.
Folgerichtig geschieht es bei einer Antiatomkraft-Demo, dass Direkt ihren ersten großen Auftritt haben – vor Madsen. Ein Erlebnis, das Wilhelmines weiteren Weg nachhaltig prägen sollte: „Die Madsens haben es geschafft, aus diesem Landkreis die große bekannte Band zu werden. Und sie an diesem Tag so nah zu wissen, da haben sich zum ersten Mal Träume in mir gebildet: Wow, die leben in Wendland, aber sind deutschlandweit bekannt. Was, wenn ich da auch hinkäme…?“
Nach dem Abitur kommt Wilhelmine erst einmal ganz woanders hin, nach Spanien nämlich, wo sie ein Jahr als Au-pair arbeitet. In ihrer freien Zeit sorgt sie jedoch dafür, dass ihr Traum weiter Gestalt annehmen kann. Sie nimmt Gitarrenunterricht und beginnt ein eigenes YouTube-Projekt, von Wilhelmine heute liebevoll als „Aufklärungs-Homo-Podcast-Geschwafel“ bezeichnet: „Mit meiner damaligen Freundin habe ich jeden Donnerstag Videos gemacht. Und als ich wiedergekommen bin aus Spanien, war für mich ganz klar: ich will wieder nach Berlin, und zwar nicht mehr nur über die Sommerferien, sondern fest.“
Berlin sollte sich als ideales Pflaster erweisen, um weitere Erfahrungen als Musikerin zu sammeln – nunmehr allein, denn die Schultage und Direkt waren gezählt. „Ich habe in U-Bahnhöfen mit viel Fluktuation immer wieder die gleichen Refrains gespielt, weil ich nur die konnte. Ich habe einen Hut aufgestellt und in zahllosen Selbstversuchen ein Gefühl dafür bekommen: wie bekommt man die Leute dazu, zuzuhören? An welchem Punkt des Songs muss ich sein, damit sie es interessiert?“ Dabei macht sie eine Erfahrung, die sich bis heute als wertvoll erweist, da sie längst große Bühnen bespielt: „Ich habe gemerkt: wenn ich leise bin, schaffe ich es viel intensiver, die Energie im Raum sammeln, als wenn ich laut bin. Auf diese Weise habe ich selbst als Vorband schon Läden mit fast 2000 Menschen komplett leise bekommen.“
Und hat sie erst einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit, hören die Menschen gebannt zu, was Wilhelmine zu erzählen hat. In ihren bisherigen Songs hat sie viel Mut bewiesen: sie machte gleich in ihrer ersten Single „meine Liebe“ ihr Coming Out zum Thema, in „Du“ Alkoholsucht im engsten Familienkreis und in „solange du dich bewegst“ den Schritt zur Selbstliebe, kurzum: sie hat „mit einem Scheinwerfer in alle Richtungen geleuchtet und geschaut, was wirklich hinter den Dingen steckt“, wie sie anlässlich ihrer Debüt-EP „komm wie du bist“ (2020) kommentierte. Ihr Mut wurde belohnt: als die Berliner Künstlerin eben jene Debüt-EP ankündigte, schossen die CD und das Vinyl prompt auf Platz 1 & 2 der „Aufsteiger des Tages“ bei Amazon, sie durfte im „ARD Morgenmagazin“ vor einem Millionenpublikum auftreten und ihre erste eigene HeadlinerTour war fast komplett ausverkauft.
Die Fans lieben Wilhelmine für ehrliche Texte, mit denen sie sich identifizieren können, zugleich gelingt ihr das Kunststück, einen als Hörer:in mit einem guten, aufbauenden Gefühl aus ihren Songs zu entlassen – „ihre Mission ist es, liebevolle Botschaften in ihren Songs unterzubringen und diese mit sehr akustischen Beats und organischen Pop-Sounds zusammenzubringen“, wie Diffusmag urteilte, die Wilhelmine zu den „10 besten neuen KünstlerInnen" 2020 zählten. Wilhelmine, das ist Empowerment in Musikform – und genau da will sie mit ihrer kommenden Musik anknüpfen. Indem sie weiterhin mutig bleibt, „sowohl in meinen Texten als auch mit meiner Musik“.
Eindrücke davon vermittelten in der Folge ihre Singles „Drip“ – ein Song, in dem sie mit einem staubtrockenen Funk-Bass, peitschenden Drums und einem guten Schuss Hip-Hop-Vibe überraschte, während sie über das anstrengende Gefühl singt, stets eine „instagramable“ Gute-Laune-Fassade aufrecht erhalten zu müssen –, das erhebend schöne „Eins sein“ (mit #1 der TikTok Deutschland Hot 50 Charts, #27 der YouTube Trends und über 60k TikTok Creations sowie über 8 Mio. Views auf TikTok & Instagram Reels ein Viral-Hit des Jahres 2021)– und „Feuervogel“, das sich mit dem Nachbeben einer Beziehung beschäftigt und Gefühle von Schmerz und Hoffnungslosigkeit zu einem kraftvollen Song verarbeitet.
Wilhelmine war im vergangenen Jahr eine der wenigen Künstler:innen, die von Amazon Music im Rahmen ihrer großen Kampagne zum Pride Month umfassend in den Vordergrund gestellt wurden, etwa mit einer Platzierung auf dem großen Screen am Berliner Ku'damm und in der Pride History Playlist bei Amazon Music, wo Wilhelmine Geschichten über berühmte Persönlichkeiten der LGBTQ+ Community erzählte und dazu passende Songs kuratierte. Zum diesjährigen Internationalen Frauentag (8. März) wurde Wilhelmine als „Deutschpop-Poetin“ von Apple Music besonders hervorgehoben. Daneben konnte man sie unter anderem als Support für Lotte und Benne, mit einem Gastspiel auf dem jüngsten Selig-Album (im Song „Mädchen auf dem Dach“) und live bei „Inas Nacht“ (mit „Eins sein“), der ARTE Open Stage Berlin und einer Songpoeten-Session mit Florian Künstler erleben.
Wilhelmine ist der direkte Kontakt zu ihren Fans enorm wichtig, auch und gerade, weil er ein wechselseitiger ist: „Letztens hat mir nach einem Konzert jemand rückgemeldet, dass ich sehr sensibel oder zerbrechlich wirke. Und das ist eigentlich absolut gar nicht das, was ich bin“, berichtet sie. „Da habe ich mich gefragt: interessant, dass meine Bühnenpräsenz das auch macht. Andere sind bei der gleichen Show und nehmen mich als total stark wahr, und zugleich sagt mir jemand, dass er mich als sensibel wahrnimmt und hofft, dass ich quasi nicht daran zerbreche. Das ist so spannend, weil ich an einem Punkt bin, der viel weiter ist als das. Ich habe aus meinen Schwächen bereits Lieder gemacht und präsentiere sie auf einer Bühne. Das heißt, ich bin eigentlich an einem ganz anderen Punkt: der Darüber-reden-können-Stärke.“
Egal, was in Wilhelmines Leben passiert – ob sie gerade durch eine gute Phase geht oder eine schlechte, ob das Leben sich leicht wie eine Feder anfühlt oder schwer wie ein Mühlstein, ob sie frisch getrennt ist oder sich neu verliebt hat: sie verarbeitet schreibend. „Und dadurch, dass ich kontinuierlich Lieder schreibe, bin ich meiner Kunst so nah. So habe ich das Gefühl, dass egal, was kommt, da bin ich, und da sind meine Lieder, die dürfen sich bewegen wie sie wollen, aber das bleibt.“
Im Winter 2021 veröffentlichte Wilhelmine ihre erste Weihnachts-Single „Fluss“, eine deutsche Version von Joni Mitchells „River“ (1971). Es gehört eine gehörige Portion Mut dazu, sich an einen Song der großen Joni Mitchell zu wagen – und diesen dann auch eigenhändig ins Deutsche zu übertragen. Doch wer, wenn nicht Wilhelmine, die sich in den jüngsten Jahren als eine der stärksten, mutigsten neuen Songwriterinnen im Deutschpop hervorgetan hat. War „Fluss“ von tiefem Liebeskummer geprägt, ist Wilhelmines nächste eigene Single am komplett anderen Ende der Skala angesiedelt: „besonders“, veröffentlicht Anfang 2022, handelt vom Rausch des Frischverliebtseins. In gewohnt starken Bildern besingt Wilhelmine den großartigen Ausnahmezustand, in dem die Welt zugleich verschwimmt und so klar erscheint wie nie: „Alles was ich will, ist jetzt hier / Wenn ich mich auflös‘, wenn ich mich fallen lass / Fließt am Ende alles zu dir“.
Im April 2022 kündigte Wilhelmine die Veröffentlichung ihres Debütalbums „Wind“ für den 28. Oktober an. In den Monaten auf dem Weg dahin erschienen die Singles „an all diesen Tagen“ – mit der Wilhelmine u. a. eine Session im Rahmen der musikalischen Performance-Reihe „trainsome sessions“ der Deutschen Bahn drehte –, „schwarzer Renault“, „sicher“ sowie – zur Veröffentlichung des Albums – „mein Bestes“. Auf ihrem Debütalbum „Wind“ benutzt Wilhelmine das gleichnamige Element als Metapher für die raschen Veränderungen in ihrem Leben. Sie singt in den Songs „über Angst, über Nähe, übers neu sortieren, übers mutig sein, Dinge so anzunehmen, wie sie zu mir kommen. Wie der Wind sie bringt und wieder nimmt.“ Das kommt an: „Wind“ steigt auf Anhieb in die Top 10 der Offiziellen Deutschen Albumcharts ein. Ein herausragender Erfolg für die Musikerin, die auch live großen Zuspruch erfährt: Drei Touren spielte Wilhelmine im vergangenen Jahr, mit größtenteils ausverkauften Shows. Ihre erste eigene Headline-Tour mit Band rund um den Release zählt für sie, neben Auftritten beim CSD in Berlin und Köln, zu Momenten, die sie nicht mehr vergessen wird. Ihre Community fühlt sich ihr dabei mehr verbunden als je zuvor.
Über all diese Erfahrungen entwickelt sich Wilhelmine stetig weiter, das zeigt sich auch in den Visuals, die ihre neue Single „nie wieder wegrennen“ begleiten, mit der sich die Musikerin im Juni 2023 zurückmeldet. Sie wirkt noch klarer und, falls das überhaupt möglich ist, noch ehrlicher. Wilhelmine hat seit den Tagen im besetzten Haus in Berlin Kreuzberg und im Wendland einiges durchgemacht, ist durch „Gezeiten“ gekommen. Und merkt deshalb auch, was sie jetzt will: Keine Umzüge. Keine harten Trennungen. Keine leeren Worte. Etwas, das wirklich bleibt. Ein Ort, der zu jeder Zeit sicher ist, an dem man Wurzeln schlagen kann. Mit „nie wieder wegrennen“ gelingt es ihr, eine ganz persönliche Story zu erzählen, in der sich erneut andere wiederfinden. Für alle, die sich nie so wirklich einer Familie zugehörig gefühlt haben, soll dieser Song ein Empowerment sein. Eine ganz persönliche Story erzählt auch ihre darauffolgende Single „Paula“. Sie ist Wilhelmines gleichnamiger Kindheitsfreundin gewidmet. „Oh Paula / manchmal glaub ich, du kannst zaubern“, singt Wilhelmine im Refrain, der außerdem in einer Akustikversion mit Madeline Juno erscheint, und ergänzt voller Bewunderung für deren Mut: „Warum kannst du das so gut / ich trau dir alles zu.“