Seit 2018 präsentieren wir im Oktogon Ausstellungen zu Fragen des Existentiellen als Thema und im Kontext der Kunstproduktion. In diesem Jahr setzen wir die Ausstellungsreihe fort. Ausgangspunkt für das 3. Kapitel ist das Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (um 1818), eines der ikonischen Werke des Malers Caspar David Friedrich (1774 – 1840). Anlässlich seines 250. Geburtstags wird er mit zahlreichen Retrospektiven und Projekten in Hamburg, Dresden, Berlin, und weiteren Städten geehrt.
Die Rezeptionsgeschichte, dieses aus heutiger Perspektive wohl prominentesten Vertreter der deutschen Romantik, ist geprägt von Phasen des Vergessen-werdens und der Wiederentdeckung, von Missverstehen und Vereinnahmung.
Friedrich lebte und arbeitete über 40 Jahre in Dresden. Wesentliche Impulse für seine komplex konstruierten, existentiellen wie melancholischen Bilderfindungen bekam er auf seinen Wanderungen durch die Landschaften der Dresdener Umgebung. Friedrichs Werk entsteht in einer Zeit der beginnenden Industrialisierung. Gegen diese aufkommenden gesellschaftlichen Veränderungen setzt er Naturdarstellungen als pantheistisch aufgeladene Assoziationsräume.
Mit der Dresdner Akademie verbindet ihn die Berufung zum außerordentlichen Professor am 17. Januar 1824. Ein Grund für uns, dem Maler ein Ausstellungsprojekt zu widmen und nach der Relevanz seines Werkes für die zeitgenössische Kunst zu fragen.
Der Wanderer
Über die Figur des Wanderers, der ins Bild getreten ist und uns den Rücken zuwendet, ist viel spekuliert worden. Der ungarische Essayist, Kunsttheoretiker László F. Földényi nimmt in seinem Buch „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“ (Berlin, Matthes & Seitz, 2021) die Rückenfigur zum Anlass, um über das Gesicht dieses Wanderers nachzudenken, das für uns unsichtbar bleibt.
Hat er ein Gesicht? Wie sähe es aus? Was würde die Figur sehen? Was verdeckt sie vor uns? Würde sie sich umdrehen können, sähen wir kein Gemälde, sondern einen Film.
In Földényis Text geht es um ikonografische Aspekte des Bildes, wie um das Sehen selbst. Und es geht um das, was sich dem Blick entzieht.
"Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen." (schreibt Friedrich)
Die nebelverhangene Landschaft gerät zur Projektionsfläche für das Unbewusste.
Gleichzeitig nimmt Friedrich in seinem Gemälde Überlegungen vorweg, die das Sehen mittels technischer Innovationen radikal erweitert werden.
Der Blick auf das Nebelmeer lässt den Wanderer vom Kino träumen.
Die Ausstellung
Ausgehend von den genannten Aspekten sind Studierende, Meisterschülerinnen und Meisterschüler, Alumni, sowie Lehrende eingeladen, jenen Assoziationsräumen nachzuspüren, die sich aus ihrer Perspektive und jenseits kanonischer Interpretationen individuell eröffnen. Dabei sind alle Wege und Dimensionen der Annäherung denkbar. Reflexionen und Assoziationen zum Motiv des Wanderns und des Naturerlebens, zum Zeichnen in der Natur, zur Natur als Projektionsraum, zum Film, zum Sehen als einer Voraussetzung der Wahrnehmung, zum Unsichtbaren, zum Nachdenken über das Medium Bild und zu Fragen und Missverständnisse bezogen auf den Begriff der Identität.
Aus den über 100 Einreichungen wird nun eine Auswahl getroffen, die eine Annäherung an Friedrich und seinen Wanderer aus heutiger Perspektive unternimmt. Das gezeigte bewegt sich zwischen Analyse, poetischer Reflexion und ironischem Kommentar.
Kuratiert von Susanne Greinke und Dorothée Billard
Ausstellung vom 24.5.–23.6.2024